Trotz Brandbrief: mehr Übergriffe, alarmierende Überbelegung, zu wenig Personal
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Krankenhauses des Maßregelvollzugs Berlin (KMV) setzen sich in ihrem Job tagtäglich erheblichen Gefahren aus. Grund dafür ist vor allem die Erkrankung der Patienten bzw. ihr Hang zu Alkohol und Drogen. In einem von Mitarbeitern an SPD-Gesundheitssenatorin Kalayci gerichteten Brandbrief nach einer Serie von Gewalttaten machten diese den „akuten Personalmangel" und die „dauerhafte Überbelegung" für die unhaltbaren Zustände verantwortlich.
Der gesundheitspolitische Sprecher Tim-Christopher Zeelen und der rechtspolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Sven Rissmann, sind der Situation mit einer parlamentarischen Anfrage auf den Grund gegangen, die nun auf elf Seiten beantwortet wurde (s. Anlage). Der Senat schätzt danach die Arbeit im KMV als „gefährlich" ein. Gewaltsame Vorfälle, auch schwere, seien nie ganz zu verhindern. Von den Patienten gingen „erhebliche" Gefahren aus.
Bei den körperlichen Übergriffen von Patienten auf andere Mitpatienten und auf Mitarbeiter ist ein besorgniserregender Anstieg zu beobachten. Allein im vergangenen Jahr gab es 83 körperliche Übergriffe gegen andere Mitpatienten (+22% zum Vorjahr) und 56 körperliche Übergriffe auf Mitarbeiter (+2% zum Vorjahr).
Einen Anstieg gibt es auch bei den Belegungszahlen. Lag die Zahl 2018 noch bei insgesamt 672 im Jahresdurchschnitt, so ist sieim Vergleich dazu 2020 um 5,5% auf 709 gestiegen. Obwohl die Belegungszahlen und die Zahl der Übergriffe steigen, sinkt die Quote bei der Stellenbesetzung. Im Jahr 2020 waren 496 von 584 Stellen besetzt, die Stellenbesetzung lag bei 84,9%. Die Stellenbesetzung ist im Vergleich zum Jahr 2016 (512 von 582; 88%) um 3% gesunken.
Ein besonders gravierender Stellenrückgang ist bei den Ärzten zu beobachten. Derzeit sind mit 36,7 Ist-Stellen von 51,8 Soll-Stellen nur 71% der vorgesehenen Stellen besetzt. Die Quote lag 2016 noch bei 97,6%. Hinzu kommt ein Krankenstand der Beschäftigten von 13,3% im Jahresschnitt.
Hierzu erklärt Tim-Christoper Zeelen: „Immer mehr Übergriffe, dauerhafte Überbelegung, hohe Krankenzahlen –die Zustände im KMV sind prekär. Der Hilferuf der Beschäftigten ist völlig verständlich. Fast jede fünfte Stelle ist nicht besetzt. Bei den Ärzten ist seit 2016 ein alarmierender Rückgang von gut einem Viertel bei der Stellenbesetzung zu verzeichnen. Im Jahresschnitt ist jeder zehnte Mitarbeiter wegen Krankheit nicht einsatzfähig. Die steigende Belastung darf nicht auf immer weniger Schultern verteilt werden. Der Senat muss hier unverzüglich handeln."
Auf die Nachfrage, ob Patienten aufgrund der Lage keine vollumfänglichen therapeutischen Angebote mehrgemacht werden könnten,räumt der Senat ein, dass es aufgrund personeller Engpässe, durch Krankheit oder zeitweise nicht nachbesetzbarer Stellen, mitunter zu Ausfällen von therapeutischen Angeboten der verschiedenen Berufsgruppen kommen kann. „Eine katastrophale Folge verfehlter Personalpolitik", so Zeelen.
Die Gründe für die Differenz zwischen der Soll-und Ist-Besetzung sieht der Senat „fast ausschließlich in der Bewerberlage", die er trotz Dauerausschreibungen sowie zahlreicher anderer Personalfindungsmaßnahmen als „schwierig" einschätzt. Das KMV sei „dankbar für jede Bewerberin und jeden Bewerber, insbesondere im Bereich der Pflege und im Bereich der Ärztinnen und Ärzte", so der Senat.
Zeelen: „Anstatt sich für Bewerbungen dankbar zu zeigen, sollte der Senat unverzüglich gegensteuern und die Rahmenbedingungen für die Arbeit im KMV attraktiver gestalten. Brandbriefe und Hilferufe schrecken junge Pflegekräfte und Ärzte ab. Man muss jetzt an den relevanten Stellschrauben drehen, damit neues Personal ins KMV kommt. Proaktiv erklärte Dankbarkeit für Bewerbungsunterlagen undder Besuch von Jobmessen reichendafür definitiv nicht!"
Um die Probleme in den Griff zu bekommen hat der Senat nach eigenen Angaben vor, im Jahr 2021 das Haus 20 auf dem Gelände der ehemaligen Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik auszubauen. Außerdem soll die stationäre Kapazität um 16 Betten erhöht werden.
Ein weiterer Ansatz, der jedoch auf der Bundesebene verfolgt werden muss, ist die Reform des § 64 StGB. In Berlin gab es einen überproportionalen Aufwuchs an nicht-rückweisbaren Zuweisungen der Unterbringungsersuchen auf Grundlage dieses Paragraphen. Unter Vorsitz des Bundesministeriums der Justiz und Verbraucherschutz ist dazu eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einberufen worden. Mit einem Abschluss des gesetzgeberischen Verfahrens sei jedoch frühestens 2023 zu rechnen. Bis dahin bleibt die Situation wohl schwierig.
Sven Rissmann: „Es muss sichergestellt werden, dass der Sinn und Zweck der Unterbringung im Maßregelvollzug, nämlich die Behandlung der dort durch richterliche Entscheidung Untergebrachten, auch praktisch erfolgt, woran derzeit begründete Zweifel bestehen.“